Interview mit Gesine Reisert


1) Guten Tag, Frau Reisert. Sie sind Fachanwältin für Strafrecht und Verkehrsrecht, haben diverse Fachliteratur veröffentlicht und sind seit Februar 2019 als zertifizierte Mediatorin und Coach tätig. Welche Erfahrungen haben Sie in den jeweiligen Ausbildungen stark geprägt?

Reisert: Dies ist nicht so einfach zu beantworten. Mich hat definitiv motiviert, dass da keine Jurist:innen waren, sondern Menschen aus verschiedenen Berufen und unterschiedlichen Alters – eben eine sehr diverse Gruppe. Manche arbeiteten bei der Deutschen Bahn, als Fotografen, Künstler oder Leiter eines Kinderheims. Ich konnte mich also in keine juristischen Diskussionen verstricken – zum Glück! Durch das Miteinander im Gespräch und die Rollenspiele haben wir mehr getan als gelesen – das fand ich sehr bereichernd! Es hat mich in meiner Referententätigkeit bestärkt: Ich muss mit den Leuten in den Dialog treten, um etwas zu bewegen. Das Wichtigste dabei: Aktiv zuhören, paraphrasieren, zusammenfassen, Vertrauen herstellen.

2) Was hat Sie dazu inspiriert, sich als Rechtsanwältin näher mit Mediation und Resilienz auseinanderzusetzen?

Reisert: Ich war krank und wusste nicht genau, ob ich meine Arbeit so weiterführen würde. Das war ein großer Cut in meinem Leben – es gibt ein „Vor“ und ein „Nach“ der Operation, in der mein rechter Lungenflügel entfernt worden ist. Mein Know-How wollte ich erweitern, auch um mir weitere Türen zu öffnen. Mediation sowie Kreatives haben mich schon immer interessiert – in der Konfliktlösung und beim Coaching kann ich beides miteinander verbinden. Die Rollenspiele fand ich besonders spannend, weil alle sich wider Erwarten sehr schnell in die zugteilte Rolle hineinversetzen (und -steigerten).

3) Sind Sie als praktische Mediatorin tätig? Wenn ja, wo liegen Ihre Schwerpunkte?

Reisert: Als Mediatorin bin ich tätig, wobei ich noch nicht von Schwerpunkten sprechen würde – dafür ist die Anzahl meiner durchgeführten Mediationen zu gering. Als Rechtanwältin im Strafrecht setze ich aber erfolgreich die erlernten mediativen Fähigkeiten in der Praxis ein. Strafprozess ist eigentlich nur sortierte und koordinierte Kommunikation!

4) Seit Februar 2020 sind Sie nun auch zertifizierte Supervisorin für Mediation: Inwiefern haben sich Ihre Aufgabenfelder in der Mediation verändert?

Reisert: Ich prüfe Prozessabläufe und die Art und Weise, wie Mediator:innen reflektieren - aus der Vogelperspektive. Haben die Beteiligten einen festen Plan mit Ziel vor Augen? Und wie reflektieren die Mediator:innen das Mediationsgeschehen? Dabei versetze ich mich selbst in andere Perspektiven, um auch die Situationen zu analysieren, die nicht optimal verliefen – Fehler sind menschlich und jede:r lernt dazu.

5) Als Certified Expert beschäftigen Sie sich unter anderem intensiv mit Stressmanagement. Wie definieren Sie Resilienz?

Reisert: Zu diesem Begriff gibt es tatsächlich unterschiedliche Definitionen – für mich ist Resilienz die Art und Weise, wie ich über eine Krise hinwegkomme, ohne größeren Schaden zu nehmen. Resilienz ist etwas, das wir im Laufe des Lebens erlernen und bewahren können. Jede:r, der oder die eine erste unglückliche Liebe hatte, muss Resilienz mitbringen, um sie hinter sich zu lassen!

6) Welche Rolle spielt Stressmanagement in den unterschiedlichen Bereichen Ihrer Praxis (als Rechtsanwältin, Mediatorin, Coach), zum Beispiel bei der Konfliktlösung?

Reisert: Eine Woche zuvor habe ich ein Seminar zum Thema „Resilienz“ vor einem rein weiblichen Publikum gehalten. Das größte Problem der Kolleginnen ist Zeit. Diese Frauen sind häufig Mütter, Beziehungspartnerinnen und Rechtsanwältinnen zugleich. Als „Highperformerinnen“ möchten sie auf allen drei Ebenen Bestleistungen erbringen Es scheint mir, dass Männer sich klarer abgrenzen können, und sie deswegen nicht dermaßen schnell in Stress geraten wie Frauen. Das zweite Element, das die Geschlechter gleichermaßen ins Schwitzen geraten lässt, sind E-Mails von Mandant:innen, die eine prompte Antwort erwarten. Mein Ratschlag: Zu Beginn des Mandates klare Ansagen machen und über die eigenen Zeit- und Arbeitskapazitäten informieren! Seien Sie gnädig zu sich selbst, schätzen Sie Ihre Arbeit wert, um dies auch Ihrer Mandantschaft zu vermitteln. Stellen Sie sich die Frage, wie Ihre besten Freunde argumentieren würden, wenn sie Ihre anwaltliche Leistung verkaufen wollten.

7) Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo sehen Sie Unterschiede oder gar Gegensätze Ihrer verschiedenen Rollen? Wie lassen sich die verschiedenen Rollen miteinander vereinbaren bzw. voneinander abgrenzen?

Reisert: Immer dann, wenn ich mit Menschen zusammenarbeite, bediene ich mich der Werkzeuge aus der Mediation oder dem Coaching zur Kommunikation. Es geht mir darum, mir vorzustellen, wie mein Gegenüber tickt. Im Strafrecht kann das zum Beispiel die Staatsanwaltschaft oder das Strafgericht sein. Sobald man miteinander verstrickt ist, ist Kommunikation im Spiel. Ganz nach Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ In der Arbeit mit meinen Mandant:innen versuche ich herauszufinden, was wirklich gewünscht ist – das gelingt nur über ehrliche Kommunikation.

8) Trennen Sie körperliche von psychischer Resilienz?

Reisert: Für mich bilden beide Bereiche eine Einheit. Ich trenne da nicht. Bei der organisationalen Resilienz begutachtet man die Strukturen und die Ziele eines Unternehmens, insbesondere in der Personalführung und der Arbeitsplatzgestaltung. Die Fragen sind dann: Wie organisiere ich eine Kanzlei oder eine Firma, um sie „krisenfest“ für den Markt zu machen?

9) Ist Resilienz angeboren oder kann man sich Resilienz selbst antrainieren?

Reisert: Wir alle tragen Komponenten in uns, die uns resilient machen. Dabei spielen schon in der Kindheit zwei Faktoren eine zentrale Rolle: Eine vertrauenswürdige, fördernde Bezugsperson und die Übernahme von Verantwortung. In meinen Vortrag befindet sich eine besonders berührende Folie zum Thema „Resilienzstärkung bei Kindern“, denn gerade sie kommen mit Grundvertrauen auf diese Welt. Nichtsdestotrotz kann man seine eigene Resilienz stets erweitern und auch trainieren. Bei Jurist:innen sind Stress, Angst und eine hohe Arbeitsbelastung oft anzutreffen – damit verbunden aber auch ein großes Durchhaltevermögen und eine extrem hohe Anpassungsfähigkeit. Was viele leider vergessen oder ausblenden, sind die eigenen Grenzen. Achten wir Jurist:innen gut auf uns selbst, achten wir mittelbar auch gut auf unsere Mandant:innen.

10) Welche Botschaft möchten Sie Ihren Kolleg:innen mit auf den Weg geben?

Reisert: Seien Sie mutig und probieren Sie es doch aus! Dies gilt übrigens für alle Lebensbereiche.


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